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Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 07.03.2019 15:18
von LenaLena
Hallo ihr Lieben,

Vor zwei Tagen ist ein Artikel mit neuen publizierten Erkenntnissen und Forschungen zum Absetzen in der New York Times erschienen.
Ich habe gesehen, dass die fleißige Murmeline :) ihn schon in der Mediensammlung verlinkt hat, aber ich wollte, einfach weil er so wichtig ist, eine deutsche Übersetzung bieten, die ich euch hiermit zur Verfügung stelle.
Ausdrucken und verteilen, sag ich nur ....
(Die Ergänzungen in eckigen Klammern, Medikamentennamen etc, sind von mir)


Antidepressiva absetzen – sehr langsam, sagen jetzt Ärzte


Mit soliden Beweisen haben zwei Forscher die standardmäßigen psychiatrischen Richtlinien verurteilt, wie Patienten am besten von Depressionsmedikamenten entwöhnt werden können.

Artikel in der New York Times, 5. März 2019, von Benedict Carey
https://www.nytimes.com/2019/03/05/heal ... rugs.html

Tausende, vielleicht Millionen von Menschen, die versuchen, Antidepressiva abzusetzen, haben schwere Entzugserscheinungen, die über Monate bis Jahre andauern: Schlaflosigkeit, Angstschübe, sogar sogenannte Gehirnblitze ("Brain Zaps"), Gefühle des elektrischen Schocks im Gehirn.

Aber die Ärzte haben solche Symptome nicht ernst genommen oder heruntergespielt und sie häufig auf das Wiederauftreten der zugrunde liegenden Stimmungsprobleme zurückgeführt.

Der auffallende Unterschied zwischen den Erfahrungen der Patienten und dem Urteil ihrer Ärzte hat in Großbritannien eine heftige Debatte ausgelöst, in der der Präsident des Royal College of Psychiatrists im vergangenen Jahr einen anhaltenden Entzug bei „der großen Mehrheit der Patienten“ öffentlich bestritten hat.

Patientenvertretergruppen forderten ein öffentliches Zurücknehmen der Aussage; Psychiater in den Vereinigten Staaten und im Ausland sprangen dem Royal College zur Verteidigung bei. Nun sind ein paar prominente britische psychiatrische Forscher aus der Reihe getanzt, haben die Position dieser Vereinigung als sehr falsch und die Standard-Entzugsempfehlungen als beklagenswert unzureichend bezeichnet.

In einem am Dienstag in der Lancet Psychiatry [Fachmagazin] veröffentlichten Artikel argumentierten die Autoren, dass der Patient bei jedem verantwortungsvollen Entzugsverlauf die Medikation über Monate oder sogar Jahre hinweg ausschleichen sollte, abhängig von der jeweiligen Person, und nicht über nur vier Wochen, wie es die Standardempfehlung besagt.

Diese Veröffentlichung ist bei weitem die stärkste forschungsgestützte Verurteilung der Standard-Ausschleich-Praktiken durch Fachleute.

„Ich kenne Leute, die abrupt absetzen und keine Nebenwirkungen bekommen“, sagte Dr. Mark Horowitz, klinischer wissenschaftlicher Mitarbeiter am britischen National Health Service und University College London und einer der Autoren des Artikels.
Aber viele Leute, sagte er, „müssen ihre Kapseln auseinandernehmen und die Dosierung Kügelchen für Kügelchen reduzieren. Wir haben die Wissenschaft zur Verfügung gestellt, um das zu unterstützen, was sie bereits tun.“

Im Bereich der Psychiatrie wurden nur wenige gründliche Studien zum Entzug von Antidepressiva durchgeführt, obwohl sich die Verschreibungen für eine langfristige Einnahme in den Vereinigten Staaten und Großbritannien in den letzten zehn Jahren verdoppelt haben, mit ähnlichen Tendenzen in anderen westlichen Ländern.

Laut einer Analyse der Bundesdaten, die die New York Times durchgeführt hat, haben mehr als 15 Millionen Amerikaner die Medikamente mindestens fünf Jahre eingenommen, eine Rate, die sich seit 2000 fast mehr als verdreifacht hat.

Externe Forscher, die sich mit Entzug befasst haben, sagten, die neue Arbeit sei ein willkommener Beitrag. „Ich denke, das, was sie präsentiert haben, bestätigt wirklich das, was ich bei vielen Patienten in der klinischen Praxis beobachtet habe, und es ist fast identisch mit der von mir angewendeten Ausschleichpraxis“, sagte Dr. Dee Mangin, Professorin für Familienmedizin an der McMaster University in Kanada, die nicht an dem Artikel beteiligt war.

Dr. Mangin, die ihre eigene zweijährige Studie über den Entzug von Prozac [Fluoxetin] abschließt, fügte hinzu: „Die andere wichtige Sache ist, dass diese Arbeit die Berichte der Patienten bestätigt, die von ihren Erfahrungen erzählen. Es ist ungeheuer frustrierend, wenn Patienten eine andere Erfahrung beschreiben als der Arzt erwartet und nicht das Gefühl haben, gehört zu werden.“

Dr. Horowitz und sein Co-Autor, Dr. David Taylor, Professor für Psychopharmakologie am King´s College London und Mitglied der South London and Maudsley N.H.S. Foundation Trust haben beschlossen, das Thema zum Teil aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen mit Medikamenten anzusprechen.

Dr. Horowitz sagte, er habe nach dem Ausschleichen nach 15 Jahren Einnahme von Antidepressiva schwere Entzugserscheinungen gehabt. Dr. Taylor hatte zuvor über seine eigenen Kämpfe geschrieben, als er versucht hat, Antidepressiva auszuschleichen.

Die beiden Forscher besuchten zunächst Online-Foren, in denen sich Leute, die Antidepressiva einnehmen, gegenseitig Ratschläge geben, wie man am besten absetzt. Diese Stellen empfahlen durchgängig ein „Mikrodosieren“, wobei die Dosis über Monate oder Jahre um immer geringere Mengen reduziert wurde, sodass manchmal nur ein einziges winziges Kügelchen aus den Kapseln entnommen wurde.
Die beiden Forscher gruben sich in die Literatur und fanden eine Handvoll Studien, die Beweise für diese Methode lieferten.

In einer in dem neuen Artikel zitierten Studie von 2010 fanden japanische Forscher heraus, dass 78 Prozent der Menschen, die versuchten, Paxil [Paroxetin, Paroxat] abzusetzen, schwere Entzugserscheinungen erlitten. Das Forschungsteam ließ sie daraufhin noch langsamer ausschleichen, im Durchschnitt neun Monate, über eine Zeit von vier Jahren. Bei diesem Prozedere erlebten nur 6 Prozent der Probanden einen Entzug.

In einer anderen Studie fanden niederländische Forscher im Jahr 2018 heraus, dass 70 Prozent der Menschen, die Schwierigkeiten hatten, Paxil [Paroxetin, Paroxat] oder Effexor [Venlafaxin] abzusetzen, ihre Medikamente auf sichere Weise absetzen konnten, indem sie sich einem ausgedehnten Absetzschema unterzogen und ihre Dosierung in immer kleineren und kleineren Schritten reduzierten, bis auf ein Vierzigstel der ursprüngliche Dosis. Dies ist das empfohlene Schema in der neuen Arbeit.

Dr. Horowitz und Dr. Taylor zitierten auch Beweise aus der Hirnforschung.
Antidepressiva wie Paxil [Paroxetin], Zoloft [Sertralin] und Effexor [Venlafaxin] [SSRI, SSNRI] wirken zum Teil durch die Blockierung des Serotonin-Transporters, eines Moleküls, das in den Synapsen zwischen den Gehirnzellen wirkt, um das chemische Serotonin zu entfernen, das bei manchen Menschen ein Gefühl des Wohlbefindens vermitteln soll. Durch die Blockierung des Transporters verlängern und verstärken Antidepressiva die Wirkung von Serotonin.

Die Untersuchungen des Gehirns zeigten jedoch, dass die Hemmung des Transporters mit der Zugabe des Arzneimittels stark ansteigt und mit der Verringerung der Dosierung ebenfalls stark abnimmt. Die übliche ärztliche Empfehlung, die Dosis um die Hälfte zu reduzieren - beispielsweise durch die Einnahme einer Pille jeden zweiten Tag - und das vollständige Ende der Einnahme nach vier Wochen berücksichtigt dies nicht, argumentierten die beiden Forscher.

„Ärzte denken, dass diese Medikamente linear wirken. Wenn Sie die Dosis um die Hälfte reduzieren, wird die Wirkung im Gehirn um die Hälfte verringert“, sagte Dr. Horowitz. „So funktioniert es nicht. Infolgedessen ist die Wirkung auf die Rezeptoren des Gehirns enorm belastet, und den Patienten wird geraten, viel zu schnell auszuschleichen.“

Laura Delano, Exekutivdirektorin der Inner Compass Initiative, einer gemeinnützigen Organisation, die das Withdrawal-Projekt [Entzugs-Projekt] betreibt und sich darauf konzentriert, Menschen dabei zu helfen, mehr über sichere psychiatrische Medikamentenkonsumierung zu erfahren, sagte: „Ich wusste nicht, welche Vorteile das langsame Ausschleichen hat, als ich fünf Medikamente in fünf Monaten absetzte und eine sehr schwierige Zeit im Entzug hatte.“

Die neue Arbeit, fügte sie hinzu, „spricht dafür, wie schwer es ist, diese Informationen in die klinische Welt zu bringen. Wir Laien haben das schon lange Zeit gesagt, und es hat sich herausgestellt, dass es erst Psychiater gebraucht hat, die selbst von diesen Medikamenten loskommen mussten, bevor diese Information endlich gehört wurde.“

Dr. Horowitz und Dr. Taylor forderten mehr und sorgfältigere Forschungen zum Entzug, zur Beschleunigung ihres Fachgebiets und zur Entwicklung von Entzugsstrategien, die auf den einzelnen Patienten und die einzelnen Arzneimittel zugeschnitten sind.

„Ich glaube, dass Psychiatern beigebracht wird, aus Lehrbüchern und aus gut durchgeführten Studien zu lernen“, sagte Dr. Horowitz. „Wir haben nicht viele davon für den Entzug, daher ist es schwer zu glauben, dass es real ist. Und Psychiater verbringen viel mehr Zeit damit, Dinge zu verschreiben, als sie absetzen zu lassen.“

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 07.03.2019 16:53
von Murmeline
Hallo lena!

Danke Dir! Ich poste das immer auch bei Zeitspenden.
viewtopic.php?p=293030#p293030

Rosenrot hat sich auch dran gemacht, aber du warst schneller!

Murmeline mit Grüßen

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 07.03.2019 17:39
von LenaLena
Oh sorry,
Das hatte ich gar nicht gesehen, tut mir leid ... ich hatte es schon für wen anderen übersetzt, bevor ich überhaupt ins Forum geschaut habe.
Lg Lena

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 07.03.2019 21:58
von Murmeline
Ist doch kein Problem, sowas kann passieren, dass etwas doppelt bearbeitet wird.

Den Erfahrungsbericht von David Taylor findet sich im Forum an dieser Stelle - Oliver hat ihn sogar 2004 schon ins Forum gestemmt (siehe sein Verweis mit Link) und ich hab ihn Jahre später unwissend nochmal übersetzt! 🙄

viewtopic.php?f=51&t=12354

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 08.03.2019 08:28
von LenaLena
Dankeschön, sehr interessant!! :)

Ich habe übrigens den Artikel vorher hier im Forum gesucht, also mit verschiedenen Schlagworten in die Forumsuche eingegeben (und da auch den von dir geposteten Link in "Medien" gefunden), aber ohne den Verweis auf die Übersetzung in Zeitspenden zu sehen.
Wenn ich das mal rein technisch anmerken darf, bei der Forumsuche gibts noch Luft nach oben :D

LG Lena

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 08.03.2019 08:48
von Murmeline
Hallo Lena,

Vielleicht liegt es daran, weil der Thread zeitspenden im persönlichen Bereich ist?

Ergänzung: wenn man New York Times eingibt, wird er schon ausgeworfen:
search.php?keywords=New+York+Times+&ter ... bmit=Suche

Den englischen Titel hatte ich allerdings nicht dazu geschrieben.

Murmeline

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 08.03.2019 09:19
von LenaLena
Hallo Murmeline,

New York Times habe ich eingegeben, aber das wurde nicht gefunden. Ob das mit dem persönlichen Bereich zusammenhängt, weiß ich nicht ...
Aber mir (und nicht nur mir, darüber jammern alle) geht es häufig so, dass ich etwas nicht finde, obwohl es schlagwortmäßig zu finden sein sollte. Dafür ist das adfd "bekannt" online ;-) Daher mein Hinweis.

LG Lena

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 08.03.2019 11:47
von padma
hallo Lena, :)

hier gibt es einen Tipp, wie man besser suchen kann viewtopic.php?f=46&t=14525

Herzlichen Dank dir für die Übersetzung. :hug:

liebe Grüsse,
padma

Re: Übersetzung: Antidepressiva absetzen (New York Times, 2019)

Verfasst: 08.03.2019 14:29
von LenaLena
Hey padma,

ach, das ist ja toll, danke herzlichst für den Tipp!!

LG Lena