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Übers.: NYT: Viele Antidepressiva-Patienten können nicht absetzen

Verfasst: 11.04.2018 18:12
von Rosenrot
Liebe Community,

Murmeline :) weist auf diesen am 8. April 2018 in der New York Times erschienen Artikel hin.

Einzelschicksale werden kurz vorgestellt, die Anfänge der modernen AD's erläutert und neue Forschungsergebnisse zum Ausschleichen angekündigt.

Der Text ist lang - aber es lohnt sich.

Die beiden Grafiken konnte ich nicht mit rübernehmen. Vielleicht mag ein Admin das bewerkstelligen?

Viele Grüße
Rosenrot

Quelle: https://mobile.nytimes.com/2018/04/07/h ... balta.html

Viele Patienten unter Antidepressiva stellen fest, dass sie nicht absetzen können

Von Benedict Carey und Robert Gebeloff

7. April 2018

Victoria Toline beugte sich über den Küchentisch, hielt die Hände ruhig und zog mit einer kleinen Pipette einen Tropfen aus einem Fläschchen.

Es war eine sensible Prozedur, die zur täglichen Routine geworden war – die Entnahme immer kleinerer Mengen des Antidepressivums, das sie 3 Jahre lang unregelmäßig eingenommen hatte und nun verzweifelt abzusetzen versuchte.

„Im Grunde war das alles, was ich getan habe – fertig werden mit dem Schwindel, der Verwirrung, der Müdigkeit, all den Entzugssymptomen,“ sagt Ms. Toline, 27, aus Tacoma, Wash. Der Entzug von Zoloft durch fortschreitende Verringerung der einzunehmende Menge dauerte 9 Monate.

„Ich konnte das College nicht abschließen,“ sagt sie. „Erst jetzt fühle ich mich wieder belastbar genug, um eine Rückkehr in das soziale Leben und die Arbeit zu versuchen.“

Der langfristige Einsatz von Antidepressiva steigt in den Vereinigten Staaten gemäß einer aktuellen Auswertung von Bundesdaten durch die New York Times an. Etwa 15,5 Mio. Amerikaner haben die Medikamente mindestens 5 Jahre lang eingenommen. Diese Zahl hat sich seit 2010 nahezu verdoppelt und seit 2000 mehr als verdreifacht.
Wie Ms. Toline standen fast 25 Mio. Erwachsene mindestens 2 Jahre lang unter dem Einfluss von Antidepressiva. Das bedeutet einen Anstieg um 60 % seit 2010.

Diese Medikamente halfen Millionen von Menschen, Depressionen und Ängste zu mildern und sind als Meilenstein psychiatrischer Behandlungsmöglichkeiten anerkannt. Viele, vielleicht die meisten Patienten setzen die Medikamente ohne nennenswerte Schwierigkeiten ab. Aber der Anstieg des Langzeitgebrauchs ist auch das Ergebnis eines unerwarteten und wachsenden Problems: Viele, die versuchen abzusetzen, scheitern nach eigener Aussage aufgrund von Entzugssymptomen, vor denen sie niemals gewarnt wurden.

Vor langer Zeit sahen einige Wissenschaftler die Möglichkeit eines Entzugssymptoms bei wenigen Patienten voraus – sie nannten es „Absetzsyndrom“. Jedoch befand sich das Absetzen zu keinem Zeitpunkt im Blickfeld der Pharmaunternehmen oder staatlicher Aufsichtsbehörden. Dort war man der Ansicht, dass Antidepressiva nicht abhängig machen können und wesentlich mehr nützen als schaden.

Die Medikamente wurden anfangs zum kurzfristigen Gebrauch zugelassen. Man stützte sich dabei auf die üblicherweise den Verlauf von ungefähr 2 Monaten dokumentierenden Studien. Selbst heute liegt nur wenig Datenmaterial über die Folgen von jahrelangem Gebrauch vor, obwohl es jetzt Millionen von Nutzern gibt.

Das Problem des wachsenden Antidepressiva-Gebrauchs beschränkt sich nicht nur auf die Vereinigten Staaten. In den meisten Industrieländern steigen die langfristigen Verschreibungen an. So hat sich die Zahl der Verordnungen in Großbritannien im vergangenen Jahrzehnt verdoppelt. Dort starteten die Gesundheitsbehörden im Januar eine landesweite Erfassung von Daten zu Abhängigkeit und Entzug verschreibungspflichtiger Medikamente.
In Neuseeland, wo die Verschreibungsraten ebenfalls ein historisches Hoch verzeichnen, offenbarte ein Überblick von Langzeitnutzern, dass Entzug als häufigste Beschwerde von Dreiviertel der Langzeitnutzer genannt wurde.

Jedoch hält der Ärztestand keine geeignete Antwort für Patienten, die mit dem Absetzen der Medikamente Probleme haben, bereit. Keine wissenschaftlich gestützten Empfehlungen, keine Methoden zur Ermittlung der am stärksten gefährdeten Patienten, keine Möglichkeiten, individuell abgestimmte Absetzstrategien zu entwerfen.

„Einige Menschen werden im Wesentlichen aus Bequemlichkeit auf diesen Medikamenten geparkt, weil es schwierig ist, das Problem der Entwöhnung anzugehen,“ sagt Dr. Anthony Kendrick, Professor für Primärmedizin an der University of Southampton, Großbritannien.

Er entwickelt mit staatlichen Geldern Online- und telefonische Hilfsangebote für Ärzte und Patienten. „Sollen wir wirklich so vielen Menschen langfristig Antidepressiva verschreiben, ohne zu wissen, ob das gut für sie ist und ob sie jemals wieder davon loskommen können?“ sagt er.

Antidepressiva waren ursprünglich zu kurzfristigen Behandlung von episodischen Stimmungsproblemen für die Dauer von 6 bis 9 Monaten gedacht: ausreichend, um durch eine Krise zu kommen, und nicht mehr.

Spätere Studien empfahlen, dass „Erhaltungstherapie“ - längerfristiger und Open-End-Gebrauch – bei einigen Patienten einer Rückkehr der Depression vorbeugen könne, aber diese Versuche dauerten sehr selten länger als 2 Jahre.

Ist ein Medikament erst einmal zugelassen, verfügen Ärzte in den Vereinigten Staaten über ein breites Spektrum an Einsatzmöglichkeiten, um es zu verschreiben, wenn sie es für geeignet halten. Das Fehlen langfristiger Erhebungen hält sie nicht davon ab, mehrere Zehnmillionen Amerikaner auf unbestimmte Zeit auf Antidepressiva zu setzen.

„Den meisten Menschen werden Antidepressiva vom Hausarzt verschrieben, nach einer sehr kurzen Konsultation und ohne deutliche Anzeichen einer klinischen Depression,“ sagt Dr. Allen Frances, emeritierter Professor für Psychiatrie an der Duke University. „Gewöhnlich gibt es eine Verbesserung und häufig gründet sich diese auf der inzwischen vergangenen Zeit oder dem Placebo-Effekt.“

„Aber weder der Patient noch der Arzt wissen das und unterstellen dem Medikament einen Nutzen, über den es nicht verfügt. Beiden widerstrebt es, einen offensichtlichen „Gewinner“ abzusetzen, und die unnütze Verschreibung wird möglicherweise über Jahre hinweg fortgesetzt – oder lebenslang.“

Die Times analysierte Daten, die seit 1999 im Rahmen des National Health and Nutrition Examination Survey erhoben wurden. Insgesamt nahmen in den Jahren 2013/2014 34,4 Millionen Erwachsene Antidepressiva, 13,4 Millionen in 1999/2000 gemäß Survey.

Erwachsene über 45, Frauen und Weiße nehmen mit größerer Wahrscheinlichkeit Antidepressiva als jüngere Erwachsene, Männer und Minderheiten. Jedoch steigt der Gebrauch bei älteren Erwachsenen durch das gesamte demographische Spektrum an.

Langfristiger Antidepressiva-Gebrauch
Fast 7 % der amerikanischen Erwachsenen haben mindestens 5 Jahre lang verschreibungspflichtige Antidepressiva genommen.


Von The New York Times | Source: National Health and Nutrition Examination Survey

Weiße Frauen über 45 stellen ungefähr ein Fünftel der erwachsenen Bevölkerung, machen jedoch 41 % der Antidepressiva-Nutzer aus im Gegensatz zu 30 % im Jahr 2000, wie die Analyse feststellt.

Demographien Langfristiger Antidepressiva-Gebrauch
Ältere weiße Frauen stellen ungefähr 58 % der Erwachsenen, die Antidepressiva für mindestens 5 Jahre genommen haben


Von The New York Times | Source: National Health and Nutrition Examination Survey

“Wie Sie sehen, steigt die Zahl der Langzeit-Nutzer Jahr für Jahr an,“ sagt Dr. Dr. Mark Olfson, Professor für Psychiatrie an der Columbia University. Dr. Olfson und Dr. Ramin Mojtabai, Professor für Psychiatrie an der Johns Hopkins University, unterstützen The Times bei der Analyse.

Es ist immer noch nicht geklärt, ob Jeder mit einer Open-End-Verschreibung jemals das Medikament wird absetzen können. Die meisten Ärzte stimmen darin überein, dass eine Gruppe von Patienten von einer lebenslangen Verschreibung profitiert, sind sich jedoch uneins über die Größe dieser Gruppe.

Dr. Peter Kramer, Psychiater und Autor mehrerer Bücher über Antidepressiva, unterstützt im allgemeinen Patienten mit leicht- bis mittelgradiger Depression beim Absetzen. Nach seiner Aussage berichten einige Patienten, dass es ihnen mit Medikation besser ginge.

„Es geht hier um eine kulturelle Frage, nämlich, mit welchem Maß an Depression ein Mensch leben sollte, wenn uns gleichzeitig diese Behandlungsmöglichkeit zur Verfügung steht, die so Vielen eine bessere Lebensqualität bietet,“ sagt Dr. Kramer. „Ich glaube nicht, dass dies eine Frage ist, die im Voraus beantwortet werden sollte.“

Antidepressiva sind nicht harmlos; sie verursachen im Allgemeinen Gefühllosigkeit, sexuelle Probleme wie mangelnde Libido oder erektile Dysfunktion, Gewichtszunahme. Langzeit-Nutzern berichten in Interviews von einem unheimlichen Unbehagen, das schwer zu beschreiben sei: Das tägliche Pillen-Einwerfen lasse sie an ihrer eigenen Widerstandskraft zweifeln, so sagen sie.

„Wir sind, zumindest im Westen, an einem Punkt angekommen, wo es so aussieht, als leide jeder Zweite an Depressionen und nehme Medikamente ein,“ sagt Edward Shorter, Psychiatrie-Historiker an der University of Toronto. „Sie müssen sich fragen, was das über unsere Kultur aussagt.“

Patienten, die versuchen, die Medikamente abzusetzen, sagen häufig, dass sie es nicht schaffen. In einer kürzlich durchgeführten Untersuchung von 250 Langzeit-Nutzern von Psychopharmaka – besonders Antidepressiva – bewertete ungefähr die Hälfte der Nutzer, die ihre Medikamente reduzierten, den Entzug als schwerwiegend. Fast die Hälfte der Nutzer, die versuchten abzusetzen, scheiterte wegen der Entzugssymptome.

In einer weiteren Studie zu 180 Langzeit-Antidepressiva-Nutzern beschrieben über 130 Nutzer Entzugssymptome. Nahezu die Hälfte sagte, sie fühle sich vom Antidepressivum abhängig.

„Viele kritisierten den Mangel an Informationen durch die Ärzte in Bezug auf das Absetzen,“ sagen die Autoren abschließend. „Und viele drückten ihre Enttäuschung und Frustration über die fehlende Unterstützung beim Absetzprozess aus.“

Pharmaunternehmen leugnen nicht, dass einige Patienten schwere Symptome beim Versuch, Antidepressiva abzusetzen, erleiden.

„Die Wahrscheinlichkeit, ein Absetzsyndrom zu entwickeln, variiert von Individuum, Behandlung und verschriebener Dosis,“ sagt Thomas Biegi, Pressesprecher von Pfizer, dem Hersteller von Antidepressiva wie Zoloft und Effexor. Er bittet die Patienten dringend, mit ihren Ärzten zusammenzuarbeiten, um durch Reduzierung der Dosis auszuschleichen. Er sagt, Pfizer könne keine Entzugsdaten bereitstellen, da das Unternehmen darüber nicht verfüge.

Der Pharmakonzern Eli Lilly bezieht sich auf 2 populäre Antidepressiva und sagt in einem Statement, dass das Unternehmen „Prozac und Cymbalta sowie deren Sicherheit und Nutzen verbunden bleibt, welche wiederholt von der U.S. Food and Drug Administration bestätigt wurden.“ Der Konzern verweigerte Aussagen zur Häufigkeit von Entzugssymptomen.

Übelkeit und Brain Zaps

Bis zurück in die Mitte der 90er Jahre erkannten führende Psychiater den Entzug als potentielles Problem für Nutzer moderner Antidepressiva.
Anlässlich einer vom Pharmaunternehmen Eli Lilly gesponserten Konferenz in Phoenix im Jahr 1997 erstellte eine Riege psychiatrischer Wissenschaftler einen ausführlichen Bericht zu Symptomen wie Gleichgewichtsstörungen, Schlaflosigkeit und Ängsten, welche bei Wiedereinnahme der Medikamente verschwanden.

Bald jedoch verschwand das Thema aus der wissenschaftlichen Literatur. Und die staatlichen Behörden konzentrierten sich nicht auf diese Symptome, da das Ansteigen depressiver Erkrankungen das größere Problem zu sein schien.

„Wir konzentrierten uns auf die wiederkehrende Depression,“ sagt Dr. Robert Temple, stellvertretender Direktor für klinische Wissenschaft im F.D.A.’s Center for Drug Evaluation and Research. „Wenn die Köpfe der Leute explodiert wären, glaube ich, hätten wir das gesehen.“

Die Pharmakonzerne hatten wenig Interesse daran, teure Studien dazu zu finanzieren, wie man ihre Produkte am besten absetzt. Und staatliche Mittel füllten diese Forschungslücke nicht.

Folglich bieten die Beipackzettel, auf die sich Ärzte und viele Patienten verlassen, sehr wenig Anleitung zum sicheren Beenden der Einnahme.

„Die folgenden unerwünschten Wirkungen wurden mit einer Häufigkeit von 1 % und mehr beobachtet,“ heißt es im Beipackzettel von Cymbalta, einem führenden Antidepressivum. Es werden Kopfschmerzen, Müdigkeit und Schlaflosigkeit neben anderen Reaktionen bei Patienten, die versuchten abzusetzen, aufgeführt.

Die wenigen zum Antidepressiva-Entzug veröffentlichten Studien legen nahe, dass einige Medikamente leichter als andere abzusetzen sind. Das liegt an der jeweiligen Halbwertzeit, der Zeit, die vergeht, bis das Medikament nach der letzten Einnahme im Körper nicht mehr nachweisbar ist.

Marken mit einer relativ kurzen Halbwertzeit, wie Effexor und Paxil, scheinen schneller Entzugssymptome hervorzurufen als diejenigen, die länger im Körper bleiben, wie Prozac.

In einer der frühesten Entzugs-Studien ließen Forscher bei Eli Lilly Patienten Zoloft, Paxil oder Prozac abrupt für eine Woche absetzen. Die Hälfte der Patienten auf Paxil erlebten starken Schwindel, 42 % litten an Verwirrung, 39 % an Schlaflosigkeit.

Bei den Patienten unter Zoloft erfuhren 38 % starke Reizbarkeit, 29 % erlebten Schwindel und 23 % Müdigkeit. Die Symptome traten kurz nach Absetzen der Medikamente auf und verschwanden bei Wiedereinnahme.

Im Gegensatz dazu erfuhren die Patienten unter Prozac keine anfänglichen Symptomspitzen beim Absetzen, was nicht verwundert. Es dauert mehrere Wochen bis Prozac den Körper vollständig verlassen hat, so dass eine einwöchige Unterbrechung keinen Entzugstest darstellt.

In einer Studie zu Cymbalta, einem weiteren Eli Lilly Medikament, erlebten die Patienten im Entzug durchschnittlich 2 bis 3 Symptome. Die häufigsten waren Schwindel, Übelkeit, Parästhesie – Elektro-Schock-ähnliche Empfindungen im Gehirn, auch Brain Zaps genannt. Die meisten dieser Symptome hielten länger als 2 Wochen an.

„Tatsächlich ist der Stand der Wissenschaft völlig unangemessen,“ sagt Dr. Derelie Mangin, Professorin im Bereich Familienmedizin an der McMaster University in Hamilton, Ontario.

„Wir verfügen über zu wenig Information über die Folgen eines Antidepressiva-Entzugs. Daher können wir keine geeigneten Absetzmethoden erarbeiten.“

Dutzende Interviewpartner, die einen Antidepressiva-Entzug durchlebt hatten, erzählten immer wieder ähnliche Geschichten: Häufig hoben die Medikamente zunächst die Stimmung. Nach ungefähr einem Jahr war es jedoch unklar, ob die Medikation überhaupt noch eine Wirkung erzielte.

Jedoch gestaltete sich das Absetzen weitaus härter und befremdlicher als erwartet.

„Es dauerte ein Jahr, um vollständig abzusetzen – ein Jahr,“ sagte Dr. Tom Stockmann, 34, Psychiater in East London, der unter Benommenheit, Verwirrung, Schwindel und Brain Zaps litt, als er Cymbalta nach 18 Monaten absetzte.

Um die Dosis sicher zu reduzieren, begann er, die Kapseln des Medikaments zu öffnen und jeden Tag ein paar Kügelchen zu entfernen, um so auszuschleichen. Dies war der einzige Ausweg, entschied er.

„Mir war bekannt, dass einige Menschen Entzugssymptome erlebten,“ sagt Dr. Stockmann. „Aber ich hatte keine Vorstellung davon, wie hart es werden würde.“

Robin Hempel, 54, vierfache Mutter aus der Nähe von Concord, N.H., begann vor 21 Jahren das Antidepressivum Paxil wegen eines schweren prämenstruellen Syndroms auf Anraten ihres Gynäkologen einzunehmen.

„Er sagte, ‚Oh, diese kleine Pille wird Ihr Leben verändern,‘“ berichtet Ms. Hempel. „Nun ja, das tat sie.“

Das Medikament dämpfte ihre PMS-Symptome, erzählt sie, aber es ließ sie gleichzeitig 40 Pfund in 9 Monaten zunehmen. Ein Absetzen war nahezu unmöglich – zunächst ließ sie der Arzt zu schnell ausschleichen, sagt sie.

Bei ihrem letzten Versuch im Jahr 2015 hatte sie Erfolg, indem sie über Monate von 20 mg, 10 mg, dann 5 mg und „schließlich bis zu Staubpartikeln“ ausschlich. Anschließend verfolgten sie 3 Wochen lang schwerer Schwindel, Übelkeit und Weinkrämpfe, beschreibt sie.

„Hätte man mich über die Risiken beim Absetzen dieses Medikaments aufgeklärt, hätte ich es niemals eingenommen,“ sagt Ms. Hempel. Anderthalb Jahre nach dem Absetzen habe ich immer noch Probleme. „Ich bin jetzt nicht Ich; Ich habe weder die Kreativität noch die Energie. Sie – Robin – ist gegangen.“

Wenigstens einige der dringendsten Fragen zum Antidepressiva-Entzug werden bald beantwortet werden.

Dr. Mangin von der McMaster University leitete ein Forschungsteam in Neuseeland, das kürzlich den ersten gründlichen, langfristigen Entzugsversuch abschloss.

Das Team rekrutierte in 3 Städten über 250 langjährige Prozac-Nutzer, die absetzen wollten. 2/3 der Teilnehmer nahm das Medikament über 2 Jahre, 1/3 über 5 Jahre.

Das Team verteilte die Teilnehmer zufällig ausgewählt auf 2 Gruppen. Eine Gruppe schlich langsam aus, indem die Teilnehmer täglich eine Kapsel mit mindestens monatlich weniger werdendem Wirkstoff erhielten.

Die Teilnehmer der anderen Gruppe glaubten, sie schlichen aus. Tatsächlich erhielten sie ihre gewohnte Dosis. Die Wissenschaftler beobachteten beide Gruppen über einen Zeitraum von anderthalb Jahren. Sie werten die Daten zur Zeit noch aus und werden ihre Ergebnisse in den kommenden Monaten veröffentlichen.

Eines jedoch machen diese Arbeit und weitere klinische Erfahrungen bereits jetzt deutlich, sagt Dr. Mangin: Bei einigen Menschen waren die Symptome so schwerwiegend, dass sie den Entzug nicht aushielten.

„Selbst beim langsamen Ausschleichen eines Medikaments mit relativ hoher Halbwertzeit hatten diese Menschen so schwere Entzugssymptome, dass sie zu ihrer ursprünglichen Medikation zurückkehren mussten,“ sagt sie.

Aktuell verwenden Patienten, die durch das Befolgen ärztlicher Anweisungen nicht absetzen konnten, eine Methode, die sich Microtapering nennt: winzige Reduktionen über einen langen Zeitraum, 9 Monate, 1 Jahr, 2 Jahre – wie lange es auch immer braucht.

„Die von Ärzten empfohlenen Ausschleichschritte sind oft viel, viel zu schnell,“ sagt Laura Delano, die beim Versuch, mehrere Psychopharmaka auszuschleichen, schwere Absetzsymptome erlitt. Sie betreibt eine Webseite, The Withdrawal Project, die Informationen zum Psychopharmaka-Entzug einschließlich einer Leitlinie zum Ausschleichen bereitstellt.

Sie ist kaum die Einzige, die der Mangel an kompetentem medizinischem Rat zum Ausschleichen von mittlerweile weit verbreiteten Medikamenten, beunruhigt.

„Es hat sehr lange gedauert, die Leute dazu zu bringen, dieses Problem anzuerkennen und ernstzunehmen,“ sagt Luke Montagu, Medienunternehmer und Mitgründer von
Council for Evidence-Based Psychiatry in London, der auf die britische Untersuchung zu Sucht und Abhängigkeit verschreibungspflichtiger Medikamente drängte.

„Es gibt diese riesige Parallelgesellschaft, die sich größtenteils online gebildet hat und in der sich Menschen gegenseitig beim Entzug unterstützen und größtenteils ohne ärztliche Hilfe die besten Methoden entwickeln,“ sagt er.

Dr. Stockmann, der Psychiater in East London, war vom Entzug als ernsthaftem Problem nicht restlos überzeugt, bis er selbst diesen Prozess durchlief. Seine Microtapering-Strategie brachte ihn schließlich zum Ziel.

„Es gab einen wirklich bedeutenden Moment,“ erinnert er sich. „Ich ging in der Nähe meines Hauses an einem Wald vorbei und plötzlich erkannte ich, dass ich das ganze Spektrum menschlicher Emotionen wieder fühlen konnte. „Die Vögel waren lauter, die Farben leuchtender – ich war glücklich.“

„Ich habe viele Menschen – Patienten - gesehen, denen nicht geglaubt wurde, die nicht ernstgenommen wurden, als sie diese Probleme darlegten,“ fügt er hinzu. „Das muss aufhören“

Re: Übers.: NYT: Viele Antidepressiva-Patienten können nicht absetzen

Verfasst: 12.04.2018 11:21
von Murmeline
Vielen Dank Rosenrot!
<3

Wer weiterlesen möchte, hier ein Beitrag von Psychiaterin Kelly Brogan als Reaktion auf den Artikel aus der New York Times:
http://kellybroganmd.com/letter-to-the- ... cant-quit/

Re: Übers.: NYT: Viele Antidepressiva-Patienten können nicht absetzen

Verfasst: 12.04.2018 18:54
von Rosenrot
Liebe Alle,

ich bin dabei, den Leserbrief zu übersetzen...dauert noch ein bisschen...der ist auch so lang...aber großartig!

:group:
Rosenrot

Re: Übers.: NYT: Viele Antidepressiva-Patienten können nicht absetzen

Verfasst: 12.04.2018 22:09
von Rosenrot
Hier nun der Leserbrief von Kelly Brogan.

Liebe Grüße
Rosenrot

Quelle: http://kellybroganmd.com/letter-to-the- ... cant-quit/


Brief an die New York Times: Viele Patienten unter Antidepressiva stellen fest, dass sie nicht absetzen können

Von Kelly Brogan, MD


Stechende Magenschmerzen, Herzrasen, Haarausfall, Ausbleiben der Menstruation, akute Psoriasis, Brennen in den Fingern, Verstopfung, Verwirrung, häufige Atemwegsinfektionen und 9 Monate hartnäckiger Schlaflosigkeit.

Nein, das ist nicht der Grund, warum Rachel Zoloft ursprünglich eingenommen hat. Nein, das ist keine „Wiedererkrankung“. Als sie zu mir kam, war sie am Ende ihrer Kräfte, hielt verzweifelt durch und war an einem Punkt der Verzweiflung angekommen, den sie 6 Jahre zuvor beim Einlösen ihres Rezeptes nicht für möglich gehalten hätte. Damals hatte eine Trennung sie mit gebrochenem Herzen zurückgelassen. Nun, 4 Monate nach der letzten Einnahme, kann Rachel den Rest ihres Lebens damit verbringen, Fachärzte aufzusuchen und neue Diagnosen einzusammeln auf der Jagd nach dem unfassbaren Band, dass sie alle verbindet: Psychopharmaka-Entzug.

Mir wurde beigebracht, Patienten wie Rachel zu sagen, dass diese Umstände die Notwendigkeit der ununterbrochenen Medikation beweisen. Mir wurde beigebracht, ihr zu sagen, dass das Medikament in Anbetracht seiner Halbwertzeit ihren Körper längst verlassen habe und ihre Symptome in keinem Zusammenhang mit der Beendigung der Zoloft-Einnahme stünden. Ihr schlechter Zustand beweise, dass sie die Wiedereinnahme beginnen solle.

10 Jahre früher hätte mich der vor kurzem in der New York Times erschienene Artikel „Viele Patienten unter Antidepressiva stellen fest, dass sie nicht absetzen können“ schockiert. Ich habe ernsthaften Medikamenten-Entzug als selten zurückgewiesen, wenn ich ihn überhaupt anerkannt habe.

Aber mit meiner zehnjährigen Erfahrung auf dem unerforschten Gebiet des Ausschleichens von Psychopharmaka erzähle ich meinen Patienten heute etwas anderes. Und ich habe wissenschaftlich fundiertes Material zum Beenden der Psychopharmaka-Einnahme zusammengetragen, um meine Haltung zu begründen.

Im ersten systematischen Überblick zum SSRI-Entzug untersuchten Fava et al. 23 Studien und 38 Fälle und schlugen abschließend vor, den euphemistischen Begriff „Absetzsyndrom“ zugunsten einer genaueren Bezeichnung der abhängig machenden Eigenschaften von Antidepressiva, nämlich „Entzug“, zu ersetzen. Ja, genau wie Xanax, Valium, Alkohol und Heroin.

Auch Chouinard und Chouinard stellen fest: „Patienten können klassische neue Entzugssymptome erleben, Rebound und/oder anhaltende Nach-Entzugs-Störungen oder die Wiederkehr der Grunderkrankung/ein Rezidiv. Neue und Rebound-Symptome können in Abhängigkeit zur jeweiligen Halbwertzeit bis zu 6 Wochen nach dem Entzug auftreten, wohingegen anhaltende oder verzögerte Störungen mit lang anhaltenden Rezeptoren-Veränderungen länger als 6 Wochen fortbestehen können.

Sie stellen sogar eine Tabelle zur Verfügung mit all den Schrecken, die ahnungslose Patienten befallen können, beginnend mit denjenigen, die eine Einnahme auslassen, bis zu denjenigen, die sorgfältig ausschleichen.

Wie kann das sein? Medikamente machen nicht süchtig. Sie haben therapeutischen Nutzen. In einer interessanten Wendung in der Geschichte der Allopathie kommt eine unbequeme Wahrheit zutage: Wir sind eine Nation, die von Drogendealern bevölkert wird. Unsere tödlichen und destruktivsten Drogendealer haben akademische Abschlüsse und einen biochemischen Scharfsinn auf Walter-White-Niveau. Heute ist die urbane Lyrik voller Geschichten über das Dealen von Pharmazeutika, Künstler schimpfen über die Verschreibenden und die Opiat-Epidemie betrifft jeden, von den CEO’s bis zu den Großmüttern.

Klar, Xanax und Oxycontin machen süchtig, aber Prozac?

Ich habe es gesagt und werde es noch einmal sagen, dass Psychopharmaka, besonders Antidepressiva, die am stärksten abhängig machenden Chemikalien auf dem Planeten sind. Ich habe Patienten gesehen, die beim Ausschleichen von 0,001 mg Celexa monatlich ausgeschaltet wurden. Bitte zeigen sie mir vergleichbare Fälle im Bereich von Crack, Kokain, Heroin, Alkohol oder anderen Medikamenten, die dieses Maß an Sorgfalt und Vorsicht erfordern, um lediglich die Einnahme zu beenden.

Um uns diese Möglichkeit vorzustellen, müssen wir uns zunächst von der Idee, dass Antidepressiva auf biochemischem Wege irgendetwas in Ordnung bringen können, verabschieden. Sie korrigieren kein Ungleichgewicht, keinen genetischen Defekt und heilen kein Gehirn.

Wie Dr. Joanna Moncrieff gesagt hat, schaffen Antidepressiva Imbalancen. Eine, an die sich der Körper anpasst, und eine, die insbesondere die Stressreaktionen rekrutiert. Dies ist eine mögliche Antwort darauf, wie und warum der Entzug dieser Medikamente Alarmglocken auslöst, die jedes geschwächte Körperteil offenbaren.

Andrews et al. haben die Tendenz dieser Medikamente, einen Entzug zu induzieren, dargelegt. Es handelt sich um ein Phänomen, das nicht in der Krankengeschichte des Patienten, sondern im chemischen Profil des Medikamentes begründet ist.

Unglücklicherweise wissen wir auch, dass es mehr als 17 Jahre dauern kann, bis wissenschaftliche Grundlagenforschung, die ein einvernehmliches Handeln herausfordert, in die Hände des durchschnittlichen Klinikers rieselt.

Da wir das jetzt wissen – warum sollte jemand ein Ausschleichen überhaupt in Erwägung ziehen? Warum nicht Alles beim Alten lassen?

Weil eine Medikation keine langfristige Lösung ist. Für Einige ist es überhaupt keine Lösung, wie die Wirksamkeit auf Placebo-Niveau beweist, die von einer extremen Liste unerwünschter Wirkungen von Magen-Darm-Blutungen bis impulsiven Tötungen begleitet wird.

Alle verfügbaren naturalistischen Langzeit-Daten warnen, dass diejenigen, die länger als 2 Monate Psychopharmaka einnehmen, weniger gesund sind als jene ohne Psychopharmaka-Behandlung. Tatsächlich waren es die Langzeit-Daten in Robert Whitakers Buch „ Anatomy of an Epidemic“, die mich meinen Rezeptblock für immer zur Seite legen ließen.

Seitdem habe ich Patienten beim Übergang zum medikamentenfreien Leben unterstützt. Die Ergebnisse, einschließlich den in der peer-reviewten Literatur veröffentlichten, trotzen den dogmatischen Annahmen über psychische Erkrankungen als chronischen, medizinischen Umstand.

Diese Menschen kamen von den Medikamenten los und erweckten zu neuem Leben.

Wie?

Sie haben es gewagt, WARUM zu fragen. Warum hatten sie Symptome? Was steckte wirklich hinter ihrer Diagnose, die manchmal nach einem 10-minütigen Gespräch mit einem College Health Center Arzt gestellt wurde. Wir bewegen uns durch Prozesse von Selbstheilung und Rückgewinnung persönlicher Autonomie, die Ungleichgewichte aufweisen.

Zunächst heilen wir den physischen Körper und wenden uns der Darm-Hirn-Entzündung zu, einem bekannten Auslöser psychiatrischer Pathologie. Während dieses einmonatigen Lifestyle-Wechsel-Protokolls befassen wir uns mit vielen reversiblen Auslösern von Symptomen von Panikattacken über Müdigkeit bis zu Zwängen. Diese Auslöser umfassen Blutzucker, nahrungsmittelbasierte Autoimmunerkrankungen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten und medikamenteninduzierte Symptome einschließlich allgemeiner Medikamente wie Antibiotika und Anti-Baby-Pillen.

Dann machen wir eine emotionale Bestandsaufnahme der Beziehungen und der Anteile, die im Leben einfach nicht mehr stimmig sind. Mit der erneuerten Energie, zurückgewonnen aus dem weißen Rauschen der körperlichen Imbalancen, sind diese Patienten bereit, sich Themen in ihrem Leben zuzuwenden, denen sie sich vorher nicht gewachsen fühlten, eine toxische Ehe, ein abstumpfender Job, das Fehlen von Gemeinschaft.

Grundsätzlich kommen tiefere spirituelle Elemente der Heilung zum Vorschein, denen diese medikamentenfreien Suchenden begegnen. Sie beginnen, den großen Fragen nachzugehen: Warum bin ich hier? Wie kann ich zurückgeben? Und das tiefere Warum ihres erlernten Verhaltens, ihrer Muster – ihre Kindheitserfahrungen und Traumata.

Durch diesen Prozess werden sie ganz. Und sie verstehen, dass – wie Rumi sagt – die Wunde der Ort ist, wo das Licht eintritt, und dass wir Raum schaffen müssen für Traurigkeit, Trauer und Schmerz, um unsere Fähigkeit zur Freude und Erfüllung entfalten zu können.

Wenn diese Überlebenden den Geburtskanal ihrer Entzugserfahrung verlassen, ist das häufigste Gefühl, das sie mir beschreiben: Ich fühle mich endlich wie ich selbst. Wer hat gewusst, dass das alles war, was wir jemals wollten.

Re: Übers.: NYT: Viele Antidepressiva-Patienten können nicht absetzen

Verfasst: 13.04.2018 17:42
von Ululu
Hallo Rosenrot,

vielen Dank, wie schön, dass du das immer für uns machst.

LG Ute