Über 1.000 Antidepressiva-Nutzer beschreiben die Beeinträchtigung ihres persönlichen Lebens
Von
Zenobia Morrill
17. Juli 2017
Eine neue in „Psychiatry Research“ veröffentlichte Forschungsarbeit stellt die persönlichen Angaben von Antidepressiva-Nutzern zu negativen Begleiterscheinungen im Hinblick auf Sexualleben, Arbeit, soziales Leben und körperlicher Gesundheit dar. John Read und ein Forscherteam im Vereinigten Königreich untersuchten darüber hinaus die Aufklärung zu Nebenwirkungen durch die Ärzte sowie den Einfluss einer gleichzeitigen Einnahme von mehreren Psychopharmaka.
- „Dieser Überblick – der bislang zweitgrößte seiner Art – bestätigt, dass Nebenwirkungen bei der Einnahme von AD‘s (Antidepressiva) sehr verbreitet sind.“
Die Verschreibungen von Antidepressiva steigen in einem überwältigenden Maße an. In England haben sich die Verordnungen seit 2005 verdoppelt. In ähnlicher Weise hat sich in Australien der Einsatz von Antidepressiva zwischen 2000 und 2014 verdoppelt. AD’s avancierten damit zum meist verwendeten Medikament, welches von 1 von 10 Australiern täglich eingenommen wurde. In den Vereinigten Staaten waren Antidepressiva 2005 das am häufigsten verschriebene Medikament und 2012 hatte 1 von 8 Amerikanern die Einnahme in seine tägliche Routine integriert.
Die Wirksamkeit von Antidepressiva bei leichten bis mittelschweren Depressionen wurde in nicht industriegeförderten Blindstudien untersucht und der Effektivität von Placebos gleichgestellt. Die Autoren beziehen sich auf den meta-analytsichen Beweis, dass „die allgemeine Wirksamkeit der neuen Generation von Antidepressiva unter den Kriterien für klinische Bedeutsamkeit liegt“.
Die Wissenschaftler stehen auf dem Standpunkt, dass die durch Antidepressiva entstehenden Schäden einen möglichen Nutzen überwiegen und AD’s lediglich bei Patienten mit sehr schweren Depressionen möglicherweise besser als Placebos wirken.
Die von Antidepressiva-Nutzern am häufigsten genannten Nebenwirkungen umfassen Übelkeit, Kopfschmerzen, Mundtrockenheit, Schlaflosigkeit, Benommenheit, Durchfall, Schwindel und Verstopfung. Andere Ergebnisse aus Untersuchungen, die unter Einbeziehung von Placebos durchgeführt wurden, haben sich in ähnlicher Weise auf medizinische Symptome konzentriert.
Die Autoren erkennen die Bedeutung dieser Untersuchungsergebnisse an. Ziel der neuen Studie war es, über die existierende Forschung hinaus zu prüfen, inwieweit Antidepressiva das persönliche und zwischenmenschliche Leben negativ beeinflussen.
Aktuell umfasst der größte Datenbestand zu Antidepressiva-Einnahme und ihren negativen Auswirkungen auf das persönliche Leben Angaben zu sexuellen Problemen, emotionaler Teilnahmslosigkeit, Depersonalisation, Unruhe, Reduktion positiver Gefühle, Suizidalität und Gleichgültigkeit gegenüber Anderen. Sehr wenige Studien haben untersucht, inwieweit verschreibende Ärzte Patienten zu negativen Auswirkungen informieren. Fast gar keine Untersuchung beschäftigte sich jemals mit den Effekten der gleichzeitigen Einnahme von AD’s und anderen Psychopharmaka.
Read und die Forscher befragten im Vereinigten Königreich über 1.000 Antidepressiva-Nutzer zu ihren Symptomen im alltäglichen und zwischenmenschlichen Bereich. Um die Lücken in der Forschungsliteratur zu füllen, fragten sie die Teilnehmer weiterhin, inwieweit diese von den verschreibenden Ärzten über negative Auswirkungen unterrichtet wurden und ob sie gleichzeitig andere Psychopharmaka einnahmen.
Die Online-Umfrage wurde von „Mind“, einer in England und Wales ansässigen Wohltätigkeitsorganisation für psychisch Kranke, entworfen und verteilt.
Die Mehrheit der Teilnehmer, die ausschließlich Antidepressiva einnahmen (85,9 % von 484 Teilnehmern), berichteten von Nebenwirkungen. Beeinträchtigungen wurden vor allem in den Bereichen Sexualleben (43,7 %), Arbeit oder Studium (27 %), körperliche Gesundheit (26,8 %) und soziales Leben (23,5 %) genannt. Die Teilnehmer nannten ferner negative Auswirkungen auf ihre engen Beziehungen (20,9 %) und ihre Selbständigkeit (10,5 %). Ergänzende Kommentare der Teilnehmer zu ihren Erfahrungen mit Antidepressiva lauteten:
- „Ich hasse sie. Sie machen mich emotional flach. So musste ich die Einnahme nach einem Trauerfall in der Familie stoppen, um sicherzugehen, dass ich bei der Bestattung würde weinen können.“
„Die Medikamente trennen mich von Allem völlig ab und machen mich leblos.“
„Ich glaube, sie verursachen u.a. Müdigkeit, so dass ich meine Arbeitszeit von Vollzeit auf 3 Tage wöchentlich reduzieren musste.“
„Sie beeinträchtigten die sexuelle Beziehung zu meinem Partner, da ich kein Interesse an Sex hatte. Wir spüren die Folgen immer noch, weil mein Partner jetzt verunsichert ist, nachdem ich so lange kein Interesse hatte.“
„Es ist sehr schwierig, die Symptome des Medikaments von den Symptomen der Krankheit zu unterscheiden.“
Es wurde festgestellt, dass die gleichzeitige Einnahme von mindesten zwei Psychopharmaka das Auftreten der schlimmsten aufgeführten Beeinträchtigungen mehr als verdoppelte. Dies umso mehr, wenn die Medikamente von einem Psychiater verordnet wurden, als wenn die Verordnung von einem Allgemeinmediziner stammte.
„Trotz des schnellen Anstiegs kann das Verschreiben mehrerer Psychopharmaka nicht als evidenzbasiertes Vorgehen angesehen werden,“ sagen die Autoren und stellen fest, dass nahezu keine Studie den Einfluss mehrerer Psychopharmaka untereinander untersucht hat und noch weniger die wissenschaftliche Grundlage für eine derartige Vorgehensweise bereitet.
Ungefähr 48 % der Antidepressiva nehmenden Teilnehmer gaben an, ausreichend zur Indikation informiert worden zu sein, wohingegen ca. 40 % berichteten, keine genügende Aufklärung erhalten zu haben.
Der verbleibende Prozentsatz war sich nicht sicher oder konnte sich nicht mehr erinnern. Bemerkenswert ist, dass Männer (53,5 %) sich eher gut informiert fühlten als Frauen (46,8 %). Das Alter der Befragten spielte definitiv bei dem Eindruck, nicht angemessen informiert worden zu sein, eine Rolle. Je älter ein Teilnehmer war, desto schlechter fühlte er sich über mögliche Beeinträchtigungen informiert.
Weitere Aussagen der Teilnehmer zur Aufklärung über Nebenwirkungen lauteten:
- „Tatsächlich verweigern die Psychiater die Beantwortung von Fragen und verwahren sich dagegen, Nebenwirkungen anzuerkennen oder zu diskutieren.“
„Die Nebenwirkungen wurden vom verschreibenden Allgemeinmediziner unzureichend erklärt. Anorgasmie ist eine besonders schlimme Nebenwirkung.“
„Ich hätte gerne mehr über die Nebenwirkungen erfahren… Ich musste mir viele Informationen selbst beschaffen, und das während schwerer Angstzustände.“
„Ich wurde nicht über alle Nebenwirkungen unterrichtet. Tatsächlich war es so, dass ich meine Ärztin über meine eigenen Recherche-Ergebnisse informierte. Sie hatte keine Vorstellung davon, dass meine Beeinträchtigungen auch Anderen widerfahren können.“
Insgesamt verdeutlichen diese Ergebnisse, wie überaus verbreitet negative Auswirkungen bei einer Antidepressiva-Einnahme sind. Die betrifft insbesondere den persönlichen und zwischenmenschlichen Bereich.
- „Das Medikament mindert nicht nur die Schwere einer Depression, sondern es kann gleichzeitig die Fähigkeit zu fühlen insgesamt einschränken. Dadurch werden schmerzhafte Emotionen durch ein Gefühl der Leere im persönlichen und folglich auch im zwischenmenschlichen Kontext ersetzt.“
„Viele Menschen fühlen sich während der Einnahme von Antidepressiva weniger depressiv. Jedoch ergibt sich diese Einschätzung vielmehr aus der durch Verschreibung und Einnahme der Tabletten entstehenden Erwartung als durch die enthaltenen Chemikalien selbst.“
Sie ergänzen, dass in der größten Studie zu persönlichen Beeinträchtigungen unter AD-Einnahme „die Einschätzung der Beziehung zwischen verschreibendem Arzt und Patient einer der stärksten Faktoren für die wahrgenommene Wirksamkeit war.“
Insgesamt unterstreichen die Ergebnisse die Bedeutung umfassender Aufklärung sowie der Erforschung von Symptomen außerhalb des biologisch-medizinischen Bereichs und stellen die wachsende Anzahl von Verordnungen mehrerer Psychopharmaka, insbesondere durch Psychiater, infrage.
Read, J., Gee, A., Diggle, J., & Butler, H. (2017). The interpersonal adverse effects reported by 1,008 users of antidepressants; and the incremental impact of polypharmacy. Psychiatry Research. http://dx.doi.org/10.1016/j.psychres.2017.07.003 (link)