Hallo Jay,
JayBlue hat geschrieben:ch habe "Unglück auf Rezept" nun weiter gelesen und bin ziemlich erschrocken darüber was WIR da nehmen!!!
Ja, das kann man auch sein!
JayBlue hat geschrieben:So wie es aussieht ist noch nicht mal klar wie viel Serotonin überhaupt im Gehirn ankommt und ob nicht das meiste im Dünndarm verbleibt
.
Dann wundert es mich nicht, dass viele mit dem Magen Probleme haben beim Absetzen, wenn das meiste Serotonin im Magen vorkommt.
Nicht im Magen, sondern im Darm. Dort sind über 90 Prozent des Serotonins verortet. Und der Darm spielt hinsichtlich zahlreicher Körperfunktionen eine wesentliche Rolle.
JayBlue hat geschrieben:Es ist fast so wie mit Contergan früher. Wir nehmen Medikamente, die heftige Nebenwirkungen haben und nicht mal wirken
.
Es ist m. E. ein vergleichbarer Skandal, nachdem weltweit mittlerweile so viele Menschen betroffen sind. Und sogar bei Contergan mussten die Betroffenen erbittert darum kämpfen, als Geschädigte anerkannt zu werden - obwohl die Zusammenhänge so offensichtlich waren!
In unserem Fall ist allerdings viel Spielraum (gerade bei psychischen Problemen), um das Ganze zu vertuschen, die Schäden sind ja erst einmal nicht sichtbar und es ist ein Leichtes, sie dem allgemeinen Gesundheitszustand des Patienten unterzuschieben.
Fairerweise muss man aber sagen, dass wir zumindest die Chance haben zu gesunden, bei Contergan sah das anders aus. Aber dennoch gehen viel Lebensqualität und viele Lebensjahre den Bach runter - und ob etwas zurückbleibt, kann ja aktuell keiner wirklich sagen.
JayBlue hat geschrieben:Das wirklich schlimme dabei ist, dass man als Patient auch keine andere Möglichkeit hat außer dem Arzt zu vertrauen.
Erst einmal ist man so konditioniert, der Autorität (in diesem Fall dem Arzt) nicht nur zu vertrauen, sondern seine Vorgaben zu befolgen - was natürlich einem mündigen Patienten nicht entspricht. Aber es ist nicht leicht, dieser überlieferten Rolle zu entkommen. Natürlich muss man niemandem blind vertrauen, man kann sich belesen, weitere Meinungen einholen etc. Aber ein mehr oder weniger blinder "Arztglaube" herrscht schon in der Bevölkerung vor, so zumindest meine Erfahrung. Und es ist wirklich schwer, sich dem zu entziehen, auch hinsichtlich des Drucks, den Angehörige ausüben können etc.
Und da die Serotonin-Lüge immer wieder wiederholt wurde, ging sie quasi als Allgemeinwissen in die Gesellschaft ein.
Das kommt noch erschwerend hinzu.
Ich wurde übrigens auch mit Duloxetin behandelt, dem ach so "tollen, brandneuen" Medikament" so gut wie ohne Nebenwirkungen", das man "von heute auf morgen problemlos absetzen kann".
So ähnlich die Informationen, die mir behandlerseitig zuteil wurden. Und ja, das Probieren, das Wechseln von einem Präparat zum Nächsten kommt bei vielen Betroffenen noch hinzu und macht die ganze Situation nicht besser. Außerdem endet das oft in Polypharmazie - mit völlig ungewissem Ausgang.
JayBlue hat geschrieben:Aber was hat der Psychiater denn sonst für eine Daseinsberechtigung, wenn er keine Pillen mehr verschreiben darf??? Das ist glaube ich das große Problem. Viele Psychiater sind keine Psychologen und das einzige Werkzeug ist der Rezeptblock. Ohne den Rezeptblock wären sie dann wohl auch ihre Daseinsberechtigung los. Dann wird halt ein bisschen herumprobiert, bis das richtige Medikament gefunden wird.
Neben der wirtschaftlichen Seite ist das ein zweiter ganz zentraler Aspekt. Die biologische Richtung der Psychiatrie hat sich im letzten Jahrhundert etabliert, und zwar aufgrund einiger
zufällig entdeckter, zweifelhafter Wirkstoffe (es wurde gar nicht gezielt geforscht). Zuvor wurden Psychiater nämlich in der medizinischen Welt häufig nicht allzu ernst genommen, sie hatten keine biologische Legitimation und galten mehr als "Seelenklempner". Mit dem Aufkommen der biologischen Richtung wuchs auch das Selbstbewusstsein und Ansehen dieser Fachrichtung, man glaubte, behaupten zu können, dass - wenn gewisse Stoffe die Stimmung heben - sich daraus ableiten ließe, dass den Patienten dann auch gewisse Stoffe im Gehirn fehlen. Und schwupps mutierten die Psychiater zu "richtigen" Ärzten, die auch einmal etwas Chemisches verschreiben konnten. Somit wurden sie auch für die Industrie interessant als potenzielle "Verkäufer" - mit allen einhergehenden Privilegien. Und so gesellte sich noch eine lukrative wirtschaftliche Ebene zum neu gewonnen Ansehen in der Fachwelt.
All diese Vorteile möchte sich die biologische Fachrichtung natürlich ungern nehmen lassen, noch dazu geht es ja - wie Du sagst - ans Eingemachte, was die Grundlage ihres Berufes ausmacht, die Verschreibung bzw. Behandlung mit PP. Es gibt glücklicherweise noch die soziale Richtung in der Psychiatrie, die anders arbeitet, aber diese ist in der Minderheit und finanziell auch nicht so auf Rosen gebettet - man ist ja auch nicht eng verzahnt mit der Industrie, also kein Wunder.
JayBlue hat geschrieben:Dieses Wissen hilft uns betroffenen beim Absetzen zwar überhaupt nichts, aber es wäre schön, wenn Ärzte umdenken würden und den Rezeptblock nur noch in Ausnahmefällen zücken würden - aber das bleibt wohl Wunschdenken.
Ich finde schon, dass es enorm hilft, die Hintergründe zu verstehen. Ich weiß, was Du meinst, ganz praktisch im Alltag scheint es erst einmal nicht zu helfen. Aber wenn man tief drinsteckt in einem Entzugsprozess, kann es passieren (lesen wir hier auch häufig), dass man doch wiederholt am eigenen Gesundheitszustand zweifelt und gar nicht glauben kann (oder mag), was da im Hintergrund alles abläuft. Und dann ist der Gang zum nächsten Arzt oft gar nicht so fern und schnell ein neues Rezept eingelöst, sodass sich das Karussell immer schneller dreht. Von daher ist es gut, möglichst breit informiert zu sein, um nicht wiederholt in diese Falle zu tappen. Wenn man schon in diesem Schlamassel drinsteckt, sollte man zumindest noch etwas daraus lernen, finde ich. Sonst ist das alles ganz umsonst. Und es ist ohnehin schon bitter genug.
JayBlue hat geschrieben:Denn jeder muss schauen wo er bleibt und Geld verdienen - und damit verdienen die nun mal ihr Geld
.
Ja, Geld verdienen schon, aber bitte nicht auf Kosten der Gesundheit anderer - "primum non nocere", also "erstens nicht schaden" ist so ein ärztlicher Ethikgrundsatz. Der ist wohl im Laufe der Jahrzehnte irgendwo verschüttet gegangen.
Liebe Grüße
Carlotta